Besser geht’s nicht – Möglichkeiten und Grenzen der Filmkritik

Die Kunst ist die Vermittlerin des Unaussprechlichen; darum scheint es eine Torheit, sie wieder durch Worte vermitteln zu wollen. Doch indem wir uns darum bemühen, findet sich für den Verstand so mancher Gewinn, der dem ausübenden Vermögen auch wieder zugute kommt.
(Johann Wolfgang von Goethe: Reflexionen)

Inhaltsverzeichnis

  1. Prolog

  2. Das Problem der unterschiedlichen Bewertungen und Kritiken

  3. Was verursacht das Problem der unterschiedlichen Bewertungen und Kritiken?

  4. Das Kritikerurteil – objektiv, absolut und relativ

  5. Das problematische Konzept „Wert“ in der Kunst

  6. Ein systematisierendes Qualitäten-Modell

  7. Fazit

  8. Quellenverzeichnis

Von Till Bender und Kai Bagsik

Prolog

PROGRAMM II – Jetzt erst recht! (Arbeitstitel)

INNEN – KÜCHE – NACHT

Freitag Abend. Ein MANN und eine FRAU sitzen am Küchentisch, offenbar gerade im Begriff auszugehen, und blättern in zahlreichen Zeitungen, Kinozeitschriften und Stadtmagazinen.

ER
Wie wär’s denn mit „Olympia“ von Frau Riefenstahl?: „ … nie wieder erreichte Bild-ästhetik der wohl bedeutendsten Regisseurin der deutschen Filmgeschichte.“

SIE
„Olympia“ hab’ ich hier auch, aber die schreiben: „Ekelhaft! Ein faschismus-verherrlichendes Machwerk.“

ER
Na dann nicht, aber vielleicht hier – „Gladiator“: „Scott und Crowe verstehen es meisterhaft, ein totgeglaubtes Genre wiederzubeleben. Der Monumentalfilm neu erfunden.“

SIE
Au nee, hör mal: „Oberflächliches Hollywood-Spektakel … ein kitschig-flaches Heldenepos.“ Aber das klingt doch gut – das Cinema über „Der Mann ohne Vergangenheit“: „das herausragende Glanzstück des eigenwilligen finnischen Filmemachers.“

ER
Da kannst du dann aber alleine hingehen – hier: „Kaurismäkis dröges Langeweilekino für anspruchsvolle Möchtegernintellektuelle.“

Es folgen einige Augenblicke ratloser Stille, dann blickt SIE zur Uhr. Es ist viertel nach acht.

SIE
Mach doch mal ZDF an.

ER streift sich die Schuhe von den Füßen und greift zur Fernbedienung.

FADE OUT

2. Das Problem der unterschiedlichen Bewertungen und Kritiken

In deutschen Kinos starten jährlich ca. 500 neue Kinofilme, davon sind ca. 10 – 20 % ganz oder zum Teil aus deutscher Produktion, dazu kommen Programmkinos und Festivals mit Kinoklassikern oder Filmen, die (noch) keinen Verleih haben.
Außerdem gibt es eine unüberschaubare Anzahl Video- bzw. DVD-Premieren, dazu kommt ein Fernsehnprogramm mit in Deutschland über 30 Programmen von öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten und Privatsendern.

Der Zuschauer sucht verzweifelt Orientierungshilfen, in den Printmedien, im Internet, bei Radio und Fernsehen. Fernsehzeitschriften tragen mittlerweile ihren Auftrag im Titel, die erfolgreichsten Programmzeitschriften sind nicht mehr „Hörzu“ und „Funk Uhr“, sondern „TV-Spielfilm“ und „TV-Movie“, die ihr Bewertungssternchen im Logo tragen.

In der nun über hundertjährigen Kinogeschichte gibt es immer wieder Filme, die von der Kritik verrissen werden, aber gleichzeitig ein großer kommerzieller Erfolg sind. Andererseits werden vielfach ausgezeichnete Filme vom Publikum abgelehnt.

Zu allem Überfluss werden aber die meisten Kinofilme völlig unterschiedlich bewertet. Kriterien werden subjektiv bestimmt. Die politisch gesellschaftliche Haltung des Rezensenten verbirgt sich oft hinter der Kritik. Außerdem durchleben viele Filmwerke eine Entwicklung in ihre Bewertungsgeschichte. Früher unbeachtete oder gar als misslungen angesehene Werke werden später zu stilprägenden Meisterwerken.

Als geradezu exemplarisch für eine wechselnde Bewertungsgeschichte kann die Regisseurin Leni Riefenstahl angesehen werden:

Vor allem ihre beiden Filme „Triumph des Willens“ (1935) und „Olympia“ (1938) werden unterschiedlichst beleuchtet und bewertet, abhängig vom kulturpolitischen Zusammenhang wird Leni Riefenstahl als Meisterin der Bilder oder als reines Werkzeug national-sozialistischer Propaganda angesehen.
Auch bei den großen Filmfestivals z.B. in Berlin, Cannes und Venedig gibt es immer wieder unterschiedliche Auffassungen unter den Experten bezüglich der Qualitäten eines Filmes. Bereits die Auswahl der in den Wettbewerb zugelassenen Filmen ruft oft Verwunderung hervor.

Die Entscheidungen der Jurys sind selten einstimmig und stehen oft im Kontrast sowohl zu der Meinung des Publikums als auch der Kritiker. Als beispielsweise David Lynchs Film „Wild at Heart“ 1990 in Cannes die Goldene Palme bekam, gab es neben Begeisterung auch Buh-Rufe, einige Zuschauer verließen den Saal.

Der Oscar, als wichtigster Filmpreis Hollywoods anerkannt, hat in seiner langen Tradition viele „schwarze Flecken“. Die Regisseure wie Alfred Hitchcock und Stanley Kubrick wurden ebenso übersehen wie die Schauspielerinnen Rita Hayworth und Marylin Monroe.

Filme wie „Apocalypse Now” und “Spiel mir das Lied vom Tod” wurden von der Academy mehr oder weniger ignoriert. Diese Beispiele aus der Geschichte der Academy Awards ließen sich über Seiten weiterführen.

Beispiele von unterschiedlichen Kritiken sind täglich in den verschiedenen Medien zu hören, lesen oder sehen. Der Oscarprämierte amerikanische Film „Monster`s Ball“ (2001) wird von den Kritikern des „ORB“, „B1“ und der „Zeit“ als herausragend beschrieben, der oft begeisterte Kritiker des Deutschland Radios Hans-Ulrich Pönack findet den Film gerade noch annehmbar, der Tagesspiegel nennt ihn gar zwiespältig und Reiner Veit vom Info Radio Berlin uninteressant.

Diese Gegenüberstellungen kann man unendlich weiterführen, bei dem Film „Road to Perdition“ (2002) ist diesmal „Info Radio Berlin“ begeistert, und die „Zeit“ findet das Werk uninteressant. Das gleiche gilt für „Minority Report“ (2002) auf der einen Seite wird der Kinobesuch empfohlen, auf der anderen davon abgeraten. Diese konträren Beurteilungen findet man bei fast allen Filmen.

Der Kinobesucher ist der zufälligen Auswahl seiner Wertungsquelle ausgeliefert oder ist beim Vergleichen von Kritiker-Urteilen überfordert. Durch diesen Umstand wird die Filmkritik anscheinend unbrauchbar und überflüssig.

Eine genauere Untersuchung dieses Umstandes ist naheliegend, damit ein effektives Arbeiten mit und Nutzen der Bewertungen in Zukunft möglich wird.

3. Was verursacht das Problem
der unterschiedlichen Bewertungen und Kritiken

3.1. Das Nicht-Objektive: Subjektivität, Geschmack und Propaganda

Oft herrscht Uneinigkeit darüber, wie gut ein Film ist, aber nie darüber, wie lang er ist.
Der Grund dafür liegt auf der Hand: Das Ermitteln der Länge ist ein rein objektiver Vorgang. Dauer ist messbar. Und wer auch immer die Dauer misst, alle werden zum gleichen Ergebnis kommen.

Das Ermitteln der Qualität hingegen ist dagegen kein rein objektiver Vorgang. Es existiert bekanntlich kein „Qualitätometer“. Aber muss deswegen jede Äußerung darüber, was ein Film taugt, völlig subjektiv sein?

Der Fremdwörterduden erklärt das Wort „subjektiv“ :

“Auf die (handelnde) Person bezogen; ichbezogen, einseitig, parteiisch“

Und das braucht das Urteil eines Kritikers gewiss nicht zu sein. So darf es nicht sein, denn wenn es sich einseitig und parteiisch auf den Autor bezieht, ist es für den Leser unbrauchbar und damit wertlos. In aller Regel kennt der Leser den Kritiker nicht genau genug, um dessen Geschmacksdisposition beim Lesen der Kritik mit berechnen zu können.

Den Bewertungen eines Kritikers, der sich von seiner Schwäche für Minimalismus und Lakonik dazu verleiten lässt, nur Aki Kaurismäki und Jim Jarmusch zu loben, während er David Lean und Steven Spielberg grundsätzlich heruntermacht, weil deren Filme nicht nach seinem Geschmack sind, kann man nur trauen, wenn man von seiner Schwäche weiß.

Es liegt also unbedingt in der Verantwortung eines redlichen Kritikers, sich beim Urteilen über seine Vorlieben und Abneigungen genau im Klaren zu sein und sie aus dem Bewertungsvorgang herauszuhalten.
Wenn er aber meint, seine Leserschaft könnte sich für seinen Geschmack interessieren, dann muss er in jedem Fall kenntlich machen, welche seiner Aussagen in seinen persönlichen Geschmacksgründen wurzeln.

Es gibt aber noch einen schlimmeren Fall als den, dass der Kritiker sein Lob nur über seinen persönlichen Geschmack legitimiert. Werden in der Öffentlichkeit Filme besprochen, geht es nämlich bedauerlicherweise oft genug ausschließlich darum, möglichst laut für ein Produkt die Werbetrommel zu rühren.

Film ist eben unter anderem Ware. Wo Waren gehandelt werden, sind immer auch kommerzielle Interessen im Spiel. Und wer kommerzielle Interessen verfolgt, bedient sich meist auch propagandistischer Mittel, um sein Produkt unter eine möglichst zahlreiche Kundschaft zu bringen.

Ob ein Film wertvoll ist oder nicht, bemisst sich für ihn danach, wieviel er einbringt, was wiederum von den Besucherzahlen abhängt. Folglich muss er dem potentiellen Publikum so schmackhaft wie möglich gemacht werden. Es versteht sich wohl von selbst, dass man auf irgendeine wertende Aussage, die unter solcher Vorgabe gemacht wird, absolut nichts geben kann.

Innerhalb dieser Werbeveranstaltungen ist jede Kritik bereits in ihrem Ursprung korrumpiert.

3.2. Der verhängnisvolle Hang zur Quantifizierung von nicht Quantifizierbarem

Eine höchst ärgerliche und sehr häufige Erscheinung ist die Umrechnung bestimmter beobachteter Qualitäten oder deren Wegfall in irgendeine Form von Zahlenwert, meist gegen Ende der Kritik, wohl als Versuch einer maximal griffigen Zusammenfassung. Dem ausführlich und differenziert besprochenen Film wird nach dem Text noch eine Zensur verpasst.

Das braucht durchaus keine Schulnote zu sein – wobei auch das sicherlich
gelegentlich vorkommt -, es kann ebenso gut auf ein anderes Bewertungssystem
hinauslaufen: drei von fünf Sternen, Daumen nach schräg oben, zwei Punkte für
Erotik, einer für Anspruch, keiner für Humor. Ja, auch die vermeintlich
differenzierenden kommen nicht ungeschoren davon. Denn irgendwie konkreter
wirken sie nur im Vergleich mit den völlig abstrakten.

Kein Mensch kann sich auf die Erotik-, Anspruchs-, oder Humorpunkte
verlassen, denn selbstverständlich – und glücklicherweise! – herrscht bezüglich
dieser Parameter kein Konsens. Wo mein Sitznachbar vor Erregung bebt, wo er in
nachsinnendes Stirnrunzeln verfällt oder sich vor Lachen biegt, lässt mich
selbst der Film möglicherweise in jeder Hinsicht kalt.

Den Thrill beim Kinobesuch, den mir die Punkte für Action und Spannung versprochen haben, kann ich nie und nimmer einklagen; wenn ich auf Nahkampf-Choreographie und systematischen Psychoterror stehe und der Film mir rasante Verfolgungsjagden und eine sich immer enger um den Hals des Killers zuziehende Schlinge bietet, dann habe ich eben Pech.

Der Griff zum Quantifizierungsstempel folgt einem möglicherweise verständlichen Bedürfnis. Wir alle sind – wenigsten aus der Schulzeit – an den Irrtum gewöhnt, mit einer Zahl oder einem Urteil zwischen sehr gut und mangelhaft werde eine sinnvolle Aussage über den Wert einer Leistung gemacht – eine doch irgendwie aussagekräftige und handhabbare Verkürzung einer ach so langatmigen und umständlichen Besprechung konkreter Fehler, Stärken und Schwachpunkte einer abgelieferter Arbeit.

Wie gesagt: Ein Irrtum.

Wie der Schüler an der Note nie ablesen kann, welche Aspekte einer gestellten Aufgabe er ordentlich bewältigt hat und was noch zu verbessern wäre, eben weil die konkreten Züge komplett hinter der abstrakten Note verschwinden, so bleibt auch bei der Filmkritik im Verborgenen, welche Aspekte zu „Daumen hoch“ geführt haben.

Im besten Fall ist die Kritik so aufschlussreich formuliert, dass das angefügte quantifizierende Urteil nicht weiter schadet. Gerecht wird es den bewerteten Qualitäten jedoch nie.

4. Das Kritikerurteil – objektiv, absolut und relativ

Wir haben geschildert, wie durch mangelnde Objektivität und durch unangemessene Quantifizierung die Brauchbarkeit von ästhetischen Beurteilungen begrenzt wird. Aber wie objektiv können denn solche Beurteilungen im Idealfall überhaupt sein? Ist nicht letztlich doch alles Geschmackssache und damit subjektiv? Schließlich heißt es doch „gut ist, was gefällt“ …

Objektiv bedeutet nach dem Fremdwörterduden wörtlich:

„Auf ein Objekt bezüglich, gegenständlich, tatsächlich, sachlich, unvoreingenommen“
und das darf man von einer guten Filmkritik verlangen: dass sie ganz auf ihren Gegenstand – den Film und das Interesse der Leserschaft – bezogen ist, indem in ihr sachlich und unvoreingenommen die Qualitäten des Films besprochen werden.

In dem Zusammenhang ist für Kritiken und andere Werturteile auch ein bestimmtes Verhältnis von Relativität und Absolutheit wünschenswert: absolut, laut Duden:

„Unabhängig, uneingeschränkt, unbedingt“
kann und soll das Urteil des Kritikers ebenfalls sein: Nämlich unabhängig von seiner
Geschmacksdisposition, nicht eingeschränkt oder bedingt durch Vorgaben des speziellen Mediums, in dem er veröffentlicht, oder andere sachfremde Faktoren wie etwa seine eigenen Eitelkeiten oder Rücksichtnahmen auf die Geschmacksdisposition seiner Leserschaft.

Und auch wenn es widersprüchlich erscheint: relativ, laut Duden:

„Bezüglich, verhältnismäßig, vergleichsweise, bedingt“
kann und soll das Urteil des Kritikers ebenfalls sein, nämlich bedingt durch transparente Kriterien, bezogen auf die Erfahrungen und Kenntnisse der Leserschaft, vergleichend und vergleichbar, indem der Leser die benannten Verhältnismäßigkeiten nachvollzieht

5. Der problematische Begriff „Wert“ in der Kunst

Um herauszufinden, ob es möglich ist, ein verlässliches Werturteil über ein Stück Kunst abzugeben, wollen wir uns nun kurz mit dem Begriff „Wert“ befassen.

Nach Grimms Wörterbuch ist die erste Bedeutung des gemeingermanischen „Wert“:

“das „wert-sein“ eines materiellen oder immateriellen (wert-)objekts für einen einzelnen (ein wertendes subjekt oder eine gemeinschaft); in mehreren bedeutungsvarianten erscheinend.
zufrühest als entsprechung das lat. pretium; im sinne von ‚preis, veranschlagtes oder gefordertes äquivalent eines (handels-)objekts in geld oder anderen zahlungsmitteln“

Demnach könnten wir die Frage, wie wertvoll ein Film sei, als eine einigermaßen profane betrachten. Mit einem Zitat von Johann Christian Günther (1695 – 1723):

“schönheit blüht zur lust des lebens,
brauchen macht den werth erst kund“

Ein anderes Bild ergibt sich, wenn wir den Film als semiotisches
Kommunikationssystem betrachten. Diese Abstraktion beinhaltet, dass eine Nachricht kodiert, über einen Kommunikationskanal einem Empfänger gesendet und dann von diesem dekodiert wird.

Dadurch entstehen dreierlei Bewertungsmöglichkeiten:

das Verhältnis Empfänger/Nachricht, das Verhältnis Empfänger/Kodierung und das Verhältnis Empfänger/Dekodierung.

Die Nachricht ist für den Empfänger wertvoll, wenn sie ihn betrifft und für ihn wichtig ist. Die Kodierung ist für die Empfänger wertvoll, wenn sie der Nachricht gemäß und der Senderkode den Dekodierungsmöglichkeiten des Empfängers angemessen ist.

Zweifellos ist jede Beschäftigung mit Kunst Kommunikation. Allerdings haben wir es dabei mit einem Sonderfall der Kommunikation zu tun, denn hier ist die Nachricht nicht in erster Linie eine faktische, eine Information, sondern eine ästhetische und semiotische Botschaft.

In seiner Schrift „Ästhetische Funktion, ästhetische Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten“ (1966/1970) beschreibt Jan Mukarovský die spezielle Beziehung zwischen Wert und Norm:

Mit ihm nehmen wir hier für „Wert“ eine einfache Definition an:

„Er wird bestimmt von der Fähigkeit einer Sache, einem bestimmten Ziel zu dienen“

Die Sache ist in unserem Fall ein Film. Aber was ist das Ziel? Da jeder
Kinogänger ein Subjekt ist, das immer selbst gewählte Interessen und Ziele
verfolgt, wird jede Bewertung wenigstens eine Beimischung von Subjektivität
behalten. Weichen diese Ziele komplett von denen der Allgemeinheit ab, sind sie
damit auch jeder allgemeingültigen Bewertung entzogen.

Zugleich kann jedes Subjekt aber auch als Teil einer Gesellschaft/Gruppe betrachtet
werden. Es muss gewiss nicht völlig in ihm aufgehen, es kann sich in Bezug auf
bestimmte Aspekte oder auch komplett dagegen wehren, und es braucht sich
nicht vom Kollektiv definieren oder vereinnahmen zu lassen, aber ein deutscher
Kinobesucher der späten 90er bleibt ein deutscher Kinobesucher der späten
90er und damit dem Einfluss kultureller Konventionen ausgesetzt.

Und für ein Kollektiv lassen sich verschiedene allgemein anerkannte Ziele
identifizieren. Das Individuum ist nicht an sie gebunden, aber für die
Allgemeinheit existieren sie als dynamische Größe. Aus diesen so halb befestigten Zielen, diesen allgemeinen Regeln ergibt sich eine Norm. Und nach der Norm bemisst sich der Wert. Einerseits.

Hierzu gehört nämlich unbedingt noch ein „Andererseits“, eine Ergänzung, ohne die das eben Gesagte vollkommen sinnlos wäre. Denn „die Geschichte der Kunst ist, wenn wir sie aus der Sicht der ästhetischen Norm betrachten, eine Geschichte der Auflehnung
gegen die herrschenden Normen“ (Mukarovský: „Ästhetische Funktion, ästhetische
Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten“ ).
Keine Epoche und kein künstlerischer Stil erfüllten je ganz die Normen der
Periode, aus der sie hervorgegangen sind. Die Kunst – jedenfalls die so
genannte hohe – ist die Erneuerin der Normen.
Ohne dieses sich Abarbeiten an, ohne dieses sich Sträuben gegen herrschende,
akzeptierte Normen würde der Künstler sich nur noch an dem orientieren
(können), was von ihm erwartet wird. Die Erfüllung der Norm hat schon ihren
Platz, allerdings eben außerhalb der Kunst, beispielsweise im Handwerk.

Außerhalb der Kunst fallen Hochwertigkeit und Erfüllung der Norm in eins. Wenn ein
Gerät genau das leistet, was ich von ihm erwarte und verlange, könnte es
perfekter nicht sein.

Wenn aber ein Stück Kunst genau das leistet, was wir von ihm erwarten und verlangen, wird es uns kaum lange anregen. Wenn uns mehrere davon in Reihe begegnen, werden sie uns bald langweilen, vielleicht gar abstoßen.

In diesem Zusammenhang nennt der Literaturhistoriker Hans Robert Jauß in „Ästhetische Distanz als Wertkriterium“ (1970) als Maßstab für den Wert eines Kunstwerkes, inwieweit es in der Lage ist, den Erwartungshorizont des Publikums zu übersteigen.

Zwischen dem gewohnheitsmäßig als schön Empfunden und dem „neuen“ Werk liegt dann eine ästhetische Distanz. Die kann durchaus für Ablehnung oder Schockierung sorgen und nur ganz allmählich wachsender Zustimmung weichen. Aber Kunst, die das Verlangen nach gewohnter Schönheit befriedigt, bleibt Unterhaltungs- oder „kulinarische“ Kunst. Diese wirkt oberflächlich beglückend indem sie uns über die Bestätigung unserer Gewohnheiten ein Sicherheitsgefühl beschert, mit einer gewissen Zuverlässigkeit alltägliche Wünsche in vertrauter Weise erfüllt und die Welt scheinbar genießbar macht, aber mit ihr treten wir gewissermaßen auf der Stelle.

Ein Stück Kunst hingegen, das uns zunächst irritiert oder gar verstört, weil es über unsere Erwartungen und Wahrnehmungsgewohnheiten hinausgeht, verlangt von uns die Auseinandersetzung mit dem, was wir wissen und wollen, und mit der noch unbekannten Erfahrung, und das kann einen Horizontwandel bewirken.
Mit der Zeit etabliert sich dann der soeben gewandelte zum neuen Erwartungshorizont, an dem sich künftige Kunst wieder abarbeiten muss.
Auf diese Weise ändert sich die ästhetische Norm und mit ihr der ästhetische Wert.

Nach welchen Kriterien im Einzelnen sich der Wert eines Kunstwerkes bemisst, kann nicht objektiv festgelegt werden. Friedrich Freiherr von Logau (1604 – 1655) zu dem Thema:

“was macht die edlen stein und klaren perlen werth?
ihr werth nicht, sondern das, dass man sie so begehrt“

Was an edlen Steinen und klaren Perlen so begehrenswert ist, lässt sich nicht beweisen. Mancher erkennt in dem gestalterischen Element der Leichtigkeit einen Wert, auf den er auch bei den gewichtigsten, tiefsten Stoffen nicht verzichten mag, ein anderer bevorzugt da die konsequente Schwere.

Wo der eine Hochwertigkeit an dem Fortbestehen in der Zeit festmacht, ist der andere nur dann richtig begeistert, wenn er erkennt, wie unmittelbar ein Stück Kunst an den Zeitpunkt seiner Entstehung geknüpft ist. Als wertvoll lassen einige nur das gelten, was einen kunsthistorisch nachweisbaren Effekt auf Künstlerkollegen und Publikum hat, wieder andere legen viel mehr Wert darauf, dass der Künstler sich kunsthistorisch nachweisbar von Künstlerkollegen und deren Publikum hat beeinflussen lassen.

Solcherlei Gewichtung kann man einander plausibel machen, aber keinen Konsens darüber erzwingen. Immerhin kann der Kritiker dem Leser seine Gewichtung ansinnen. Für den Kritiker gilt es herauszuarbeiten, was genau ihm einen Film als mehr oder weniger wertvoll erscheinen lässt. Er kann benennen, welche Elemente ihm mehr und welche ihm weniger geglückt erscheinen, er kann Bezüge zu anderen mehr oder weniger geglückten Filmen herstellen, und er kann den besprochenen Film in einen kulturellen Kontext stellen.

Auf diesem Wege macht er sein Urteil so transparent, so evident, dass der Leser die unmöglichen Beweise für das Urteil nicht vermisst, weil er sie gar nicht beansprucht, da ihm einleuchtet, wie die Gewichtung bestimmter Qualitäten zu einem bestimmten Urteil führen.

Wert und Qualität sind Kategorien, die vielfach synonym gebraucht werden; tatsächlich bedeuten sie aber nur bei großzügiger Definition wirklich das gleiche.
Qualität bildet die eine Hälfte eines Begriffspaares, deren Gegenpart die Quantität ist (zu „qualitas“, „quantitas“, im 16. Jh. aus dem lat. entlehnt).
Während sich die quantitas auf die Größe, die Menge bezieht, fragt die qualitas nach Beschaffenheit, Verhältnis, Eigenschaft.

Wir meinen hier die Qualität in diesem engeren, ursprünglichen Sinne.

So setzt sich jeder Film aus zahlreichen Qualitäten zusammen, wie sie im folgenden Kapitel aufgelistet sind. Leider lassen die veröffentlichten Kritiken nur höchst selten den Gedanken an eine solche Vielfalt aufkommen, konzentrieren sie sich doch zumeist auf die Analyse des Plots, das Schauspielerische und wenige andere Aspekte und werden damit der Komplexität des Films kaum gerecht.
Aber die Basis für jede vernünftige Kritik verschafft man sich nur dadurch, dass man sorgfältig alle Qualitäten herausarbeitet, die für einen bestimmten Film wesentlich sind, und sie zueinander in Beziehung setzt.

6. Ein systematisierende Auflistung der Qualitäten

Hier wird nun der Versuch einer Auflistung der Qualitäten unternommen. Der Grad der strukturellen Verästelung soll hier nur als Vorschlag verstanden werden. Der Film besteht aus den drei Haupt-Ästen Vorproduktion, Produktion und Postproduktion und wird eingefasst vom Rahmen der Bedingungen, unter denen er entsteht.

Der Baum verästelt sich immer weiter bis in die kleinsten Details der Qualitäten:

– Ist diese Requisite authentisch und passt sie farblich zum Kostüm?
– Ist diese schauspielerische Regung realistisch und korrespondiert sie mit dem gesamten Inszenierungskonzept?

Diese weitreichende Verästelung ist hier auf ein übersichtliches Maß gestutzt und nur beim Szenenbild ein wenig weitergeführt.

Auflistung der Qualitäten:

1. Rahmenbedingungen

1.1. Finanzieller Rahmen
1.2. Politischer Rahmen
1.3. Zeit
1.3.1. Zeitpunkt der Entstehung
1.3.2. Für das Projekt zur Verfügung stehende Zeit
1.4. Fachspezifischer Erfahrungsschatz

2. Vorproduktion

2.1. Idee
2.2. Plot
2.3. Drehbuch
2.3.1. Dialoge
2.3.2. Erzählstruktur

3. Produktion

3.1. Schauspielkunst
3.2. Kamera
3.3. Szenenbild
3.3.1. Idee
3.3.2. Grundkonzept
3.3.3. Bilddramaturgie
3.3.4. Mehrschichtigkeit
3.3.5. Semiotik/Zeichenreichtum
3.3.6. Farbkonzept
3.3.7. (Kostüm-)Harmonie
3.3.8. Kadierung/Tiefe
3.3.9. Requisiten
3.3.10. Authentizität/Künstlichkeit
3.3.11. Ausführung
3.4. Kostüme
3.5. Regie
3.5.1. Schauspielführung

4. Postproduktion

4.1. Musik
4.2. Schnitt
4.3. Technische Nachbearbeitung
4.3.1. Analog
4.3.2. Digital

7. Fazit

Ein leicht modifizierter Aphorismus von Georg Christoph Lichtenberg lautet:

„Die Leinwand ist wie ein Spiegel: Wenn ein Affe hinaufschaut, kann freilich kein Apostel herabschauen“

Um nicht als „Affe“ im Kino zu sitzen, dürfen wir uns nicht darauf beschränken, uns dem Film passiv auszusetzen und nachher zu fragen, ob er uns als Gesamtwerk gefallen hat. Wir müssen uns vielmehr darum bemühen, die Gesamtheit der Einzelqualitäten und deren Zusammenspiel zu erfassen; keine andere Kunstform setzt sich aus einem vergleichbar weit gefächerten Spektrum von Disziplinen zusammen.

Auf diese Weise wird erkennbar, dass „Gladiator“ weder nur meisterhaft noch nur kitschig-flach und „Der Mann ohne Vergangenheit“ weder nur herausragend noch nur dröge genannt werden darf, weil keine Beurteilung gleichmäßig auf alle Aspekte eines Films zutreffen wird.

In dieser Haltung werden wir sicher nicht gleich zu „Aposteln“, können aber durchaus als kompetente Kritiker zur Leinwand aufschauen.

8. Quellenverzeichnis

Die Chronik des Films – Chronik Verlag, Augsburg 1996.

Kino: die große Welt der Filme und Stars ¬- deutsche Ausgabe Bassermann´sche Verlagsbuchhandlung, Niedernhausen 1995.

Hitchcock/Truffaut – Diana Verlag AG, München und Zürich 1999.

Oscar – Premiere und Wilhelm Heyne Verlag, München 1998.

Orson Welles von Andrè Bazin Originalausgabe Paris 1958.

Mukarovský, Jan: Ästhetische Funktion, ästhetische Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten. In: J. M., Kapitel aus der Ästhetik. Frankfurt a. M. 1970. Zitiert nach: Degenhardt, Inge (Hrsg.): Arbeitstexte für den Unterricht, Literarische Wertung. Universal-Bibliothek Nr. 9544. Ditzingen 1991. S. 99-111

Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a. M. 1970.

Deutsches Wörterbuch / von Jacob u. Wilhelm Grimm. – Nachdr. – München: Deutscher Taschenbuch Verlag NE Grimm, Jacob (Mitverf.); Grimm, Wilhelm (Mitverf.); GT Bd. 29 =Bd. 14 Abt. 1; Teil 2. Wenig – Wiking / bearb. Von d. Arbeitsstelle d. Dt. Wörterbuches zu Berlin. – Fotomechan. Nachdr. D. Erstausg. 1960 – 1984. NE: Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuches <Berlin, Ost>

Reiners, Ludwig: Stilkunst: ein Lehrbuch deutscher Prosa / Ludwig Reiners. – Völlig überarb. Ausg., 129 – 140. Tsd. – München 1991.

Duden „Fremdwörterbuch“ / bearb. Von Wolfgang Müller unter Mitwirkung von Rudolf Köster und Marion Trunk u. weiteren Mitarb. D. Dudenred. Sowie zahlr. Fachwissenschaftlern. – 4., neu bearb. U. erw. Aufl. – Mannheim; Wien; Zürich: Bibliographisches Institut, 1982. (Der Duden in 10 Bänden, Bd. 5)

Albersmeier, Franz-Josef (Hrsg.): Texte zur Theorie des Films. Universal-Bibliothek Nr. 9943. Ditzingen 1998.